Kindesentwicklung

Babys sehen mehr als Erwachsene

Es klinkt kontraintuitiv: weil das Sehsystem von sehr jungen Kindern noch unreif ist, können sie Reize wahrnehmen, die für ältere unsichtbar sind. Zu diesem Schluss gelangte ein Forschertrio um Masami Yamaguchi von der Chuo-Universität in Tokio.

Für die Verarbeitung von visuellen Informationen sind zwei Signalwege wichtig. Zum einen gelangen die Informationen über das, was wir sehen, Schritt für Schritt von der Retina zu höheren Hirnregion. Doch die Großhirnrinde sendet auch ein Signal zurück an frühere Stationen. Diese Feedbackschleife muss allerdings erst ausreifen - wann genau das stattfindet, war bislang unklar. Um der Antwort auf diese Frage näher zu kommen, führte das Team um Yamaguchi mit 60 Säuglingen im Alter von drei bis acht Monaten ein in der Psychologie beliebtes Experiment durch: Bei der visuellen Maskierung folgt ein Störbild in kurzem Abstand auf einen visuellen Zielreiz. Dieser wird dadurch "maskiert" und kann nicht bewusst wahrgenommen werden. Zumindestens ist das bei Erwachsenen so, denn die Feedbackschleife wird durch den Störreiz unterbrochen.

Die Forscher präsentierten den Babys maskierte sowie unmaskierte Gesichter auf einem Bildschirm. Die Idee dahinter: Gesichter ziehen die Aufmerksamkeit von Säuglingen magisch an und werden von ihnen länger betrachtet als andere Objekte. Daher kann man anhand der Blickdauer erkennen, ob sie diese bewusst wahrnehmen.

Ab einem Alter von sieben Monaten schauten, die Babys tatsächlich länger auf den Bildschirm, wenn unmaskierte Gesichter zu sehen waren. Bei jüngeren Kindern konnten die Forscher hingegen keine Unterschiede im Blickverhalten zwischen maskierten und unmaskierten Reizen feststellen. Das Team schlussfolgert daraus, dass Kinder bis zum sechsten Lebensmonat immun gegen visuelle Maskierung sind - vermutlich, weil ihre Wahrnehmung bis zu diesem Zeitpunkt noch ohne Feedback arbeitet.

Quelle: PNAS 10.1073/pnas.2103040118,2021

Zeitschrift Gehirn & Geist, Ausgabe 10/2021